Eine Reise in die Vergangenheit Québecs - Interview mit dem Regisseur von Corbo


Nachdem ich am Dienstag Abend Corbo gesehen hatte und nach dem ausführlichen Publikumsgespräch (ganz zu schweigen von dem ganzen Pressematerial) hätte man meinen können, dass ich inzwischen genug über den Film herausgefunden hatte. Dem war allerdings nicht so. Als sich die Gelegenheit ergab, eilte ich sofort herbei - gefolgt von den anderen Generationreportern -, um nun auch noch einmal persönlich mit Mathieu Denis, dem Regisseur von "Corbo", sprechen zu können.
Er war ein sehr angenehmer Interviewpartner. Er hörte gut zu und erzählte gerne und viel zu den jeweiligen Fragen.

Es folgt eine Zusammenstellung der Fragen aus dem Publikumsgespräch, dem Pressematerial und unserem persönlichem Interview.


Woran versucht Ihr Film zu erinnern?
Es ist interessant, dass Sie das erwähnen, da das Motto von Québec „Je me souviens“, also „Ich erinnere mich“, lautet. Dennoch scheinen wir Québecer diesen Teil unserer Geschichte vergessen zu haben und eher in die Zukunft gucken zu wollen. Genau das ist aber ein großer Fehler. Es ist verständlich, dass man sich nur an die guten Dinge der Vergangenheit erinnern möchte, aber wenn man sich nicht über die Fehler der Vergangenheit im Klaren ist, werden sich diese wiederholen. Außerdem können wir, wenn wir diese Geschehnisse verstanden haben, auch unsere Gegenwart viel besser nachvollziehen.

Ist die Geschichte Jean Corbos in Kanada (oder Québec) sehr bekannt?
Damals, als diese ganzen Dinge passiert sind, die auch in Corbo dargestellt werden, war der Fall von Corbo sehr bekannt, doch leider scheint er über die Zeit in Vergessenheit geraten zu sein. Ich hab von diesem Vorfall durch meinen Vater gehört, der damals, als es passiert ist, im gleichen Alter wie Jean gewesen war, weshalb ihn diese Angelegenheit sehr mitgenommen und persönlich getroffen hat. Deswegen hat er diese Geschichte nie vergessen und mir schließlich erzählt, als ich alt genug war.
Ich persönlich war sehr fasziniert davon. Ich wollte herausfinden, ob ich in Jeans Alter, zu solch extremen Handlungen bereit gewesen wäre. Die Antwort dazu war nein, da ich wirklich keinen Grund gesehen habe. Ich wollte unbedingt herausfinden, was ihn dazu getrieben hat, weshalb ich letztendlich einen Film über ihn gedreht habe.

Wie haben Sie sich auf den Film vorbereitet? Wie haben Sie ihn geplant?
Natürlich musste ich zunächst eine Menge Nachforschungen anstellen. Ich habe versucht, die Gerichtsakten einzusehen, doch musste ich feststellen, dass die Akten alle 30 Jahre gelöscht werden. Erneut habe ich mich gefragt, wie das mit unserem Motto „Je me souviens“ zusammenpassen soll.
Dann habe ich versucht Familienangehörige zu treffen und herauszufinden, wie sie die damaligen Ereignisse erlebt haben. Ich habe mich also mit vielen Leuten unterhalten. Übrigens auch mit alten Mitgliedern der FLQ, die damals dabei gewesen waren. Nachdem ich alles, was ich brauchte, herausgefunden hatte, versuchte ich meinen Standpunkt zu finden. Da Corbo keine Dokumentation werden sollte, musste ich mir zunächst meine eigene Meinung bilden, um diese dann darstellen zu können.

Wie haben Sie Ihre Schauspieler gefunden?
Das war etwas, was mich sehr betroffen hat, als ich mit den Nachforschungen begann: Dass die Leute alle so jung waren. Mir war von Anfang an klar, dass ich keinen 25-Jährigen die Rolle von Jean würde spielen lassen können, da man mit 16 noch eine gewisse Art von Idealismus, Naivität und Romantik hat, die man mit der Zeit verliert.
Also habe ich ein normales Casting gemacht, wobei ich eine Menge Kandidaten sah. Zufälligerweise war aber Anthony, der Schauspieler von Jean, der erste dieser Kandidaten, den ich mir angesehen habe und wie das eben so ist, wenn man einmal etwas sehr Gutes gesehen hat, habe ich alle anderen immer mit Anthony verglichen und musste letztendlich feststellen, dass keiner so gut war wie er.

Jeans Weg wirkt sehr bestimmt. War es Absicht, dass es so unausweichlich wirkt? Als ob es seine Bestimmung wäre?
Ja, das war es. Die Idee kam mir sehr früh. Es sollte so wirken, als wäre Jeans Weg unausweichlich, dass ihn im Grunde alles zu diesem Ende lenkt. Ich wollte es so darstellen, als wäre es seine Bestimmung. Allerdings denke ich, dass wenn nicht er es gewesen wäre, ein anderer gestorben wäre. Es wirkt als hätte diese Verknüpfung von Geschehnissen ihm praktisch keine andere Möglichkeit gegeben, als so zu handeln wie wir es im Film gesehen haben.
Die erste Zeile aus dem Gedicht, das ich am Ende des Films gezeigt habe, lautet „Tu allais Jean Corbo au rendez-vous de ton geste“, was so viel bedeutet wie „Du warst, Jean Corbo, auf dem Weg, dein Schicksal zu treffen“. Für mich war dieses Gedicht sehr wichtig. Es machte mir klar, dass ich Corbos Geschichte genau so darstellen wollte, dass der Zuschauer merkt, dass etwas Unausweichliches in diesen Geschehnissen liegt.
Daher ist der Film auch chronologisch aufgebaut. Im Grunde arbeiten alle Ereignisse auf den Höhepunkt hin, dass Jean stirbt.

Was ist Ihre persönliche Lieblingsszene in Ihrem Film?
Mir persönlich gefällt die Szene sehr gut, in der Jaques, der die Bombe gebaut hat, die Explosion hört. Der Moment, in dem er völlig fassungslos ist, dass sie jetzt schon explodiert ist. Diese Szene finde ich sehr berührend.
Außerdem gefällt mir auch die letzte Szene, in der man Jean im Wald stehen sieht. Wir haben diese letzte Szene sehr schnell geschnitten und das Voice-over eingefügt, sodass ich, als ich sie das erste Mal richtig sah, angefangen hab, zu weinen. Mir war das etwas peinlich, aber diese Szene war echt herzzerreißend, dass die FLQ-Mitglieder sich so von Jean distanzierten und sagten, sie hätten ihn nicht richtig gekannt.

Warum wurde nichts von den Demonstrationen gezeigt, die damals auf den Straßen passierten? So erhielt man den Eindruck, als wären nur um die 15 Personen in der FLQ.
Das war eine sehr bewusste Entscheidung, die ich getroffen habe. Natürlich hätte ich mit den Charakteren auch auf irgendwelchen Protesten auf der Straße sein können. Das Problem damit war allerdings, dass ich den Film auf einer sehr intimen Ebene machen wollte. Ich wollte die Persönlichkeiten, die hinter dieser terroristischen Gruppe stehen, hervorheben. Ich hatte tatsächlich solche Szenen gedreht gehabt, doch als ich mir diese später noch einmal anschaute, hatte ich das Gefühl, dass sie nicht passen würden, dass sie den Fluss des Films stören würden und dass Corbo dann mehr wie eine Dokumentation erscheinen würde, was ich garantiert nicht wollte.
Um den Film in den historischen Kontext einzuordnen, habe ich zu Beginn des Films diese kurze Zusammenfassung der Ereignisse aufgelistet, damit ich mich im Film dann mehr auf die Charaktere konzentrieren konnte.

Haben Sie den Charakter von Jeans Bruder absichtlich völlig gegensätzlich agieren lassen, obwohl beide das gleiche Ziel hatten?
Ich fand die Vorstellung sehr interessant, dass Jean jemanden hat, der sehr unterschiedlich vorgeht. Jeans Bruder legt alle seine Vorstellungen völlig offen und erzählt jedem von seinen Ansichten, während Jean seine Gedanken sehr zurückhält. Eben diese Gegensätzlichkeit fand ich interessant, ja.

Was hat es damit auf sich, dass kaum Frauen in dem Film vorkommen? Liegt das daran, dass sie glauben, dass Frauen sich in der Geschichte eher zurückgehalten haben oder dass sie denken, dass Frauen von solchen Gedanken befreit sind oder was waren ihre Gründe?
In diesem Fall war ich an die Fakten gebunden, da der Film auf einem historischen Ereignis basiert. Die FLQ bestand tatsächlich hauptsächlich aus Männern, weshalb ich kaum Möglichkeiten hatte, Mädchen einzubinden. Es stimmt, dass Corbos Mutter ein wenig in den Hintergrund gerückt ist, doch liegt das daran, dass Jean meiner Meinung nach eine sehr interessante Beziehung zu seinem Opa und zu seinem Vater hegt, die och hervorheben wollte.
Also war es nicht meine bewusste Entscheidung, Frauen von dem Film auszuschließen. Ich konnte einfach keine neuen Personen erfinden, nur um politisch korrekt zu handeln.

Welche Lektion sehen Sie in Ihrem Film, wenn man ihn auf heute überträgt?
Ich glaube die Québecer sehen sich selbst nicht als wirkliche Kanadier, wodurch sie Probleme haben sich in Kanada einzugliedern. Und dass, obwohl sie bereits zweimal bei einem Referendum abstimmen konnten, ob sie weiterhin zu Kanada gehören wollten oder nicht. Da beide Male gegen die Unabhängigkeit gestimmt wurde, kann man deutlich erkennen, dass die Québecer momentan nicht wissen, was sie wollen. Sie befinden sich in einer Identitätskrise.
Diese Identitätskrise spiegelt sich auch in Jeans Geschichte wieder. Durch seinen halb-italienisch, halb-französisch-kanadischen Hintergrund, war auch er in einer Identitätskrise. Er hat nicht wirklich zu der italienischen Gruppe gehört, aber auch nicht ganz zur französischen.
Das ist meiner Meinung nach wahrscheinlich auch ein sehr wichtiger Grund, weshalb er der FLQ beigetreten ist. Er wollte sich endlich eine Identität zulegen. Er musste sich entscheiden.
Übertragen heißt das, dass auch die Québecer sich irgendwann werden entscheiden müssen.
Der momentane Zustand führt nämlich zu nichts, nur zu einer Menge Unglück und Spannungen.
Als weitere Botschaft war mir wichtig, dass man die Energie, die Jean und seine Kameraden besitzen, wahrnimmt. Natürlich hoffe ich nicht, dass jemand jetzt losrennt und Bombenattentate ausübt. Ich hoffe nur, dass man von dieser Energie inspiriert wird. Ich denke, dass wir heutzutage ein wenig den Optimismus verloren haben, den Glauben daran, wirklich etwas ändern zu können, der in der damaligen Zeit noch vorhanden war. Ich hoffe, dass wir einen Weg finden, diesen Optimismus wiederzufinden.

Gab es während Ihrer Nachforschungen etwas, dass sie besonders geschockt hat? Etwas, das Sie den Zuschauern unbedingt auf irgendeine Weise klar machen wollten?
Ich hatte die Möglichkeit, mir die Unterlagen der Biopsie zu Jeans Todesfall anzugucken. Zunächst war ich mir nicht sicher, ob ich das wirklich machen wollte, doch schließlich habe ich mich überwunden. Dadurch, dass Jean so nah am Auto war, als die Bombe explodiert ist, war sein Oberkörper nahezu unversehrt. Wenn man dann die Bilder anschaut, sieht man wirklich das Gesicht eines Teenagers, seine Augen sind offen und er wirkt fast lebendig. Wegen dieser Bilder fand ich es notwendig, Jean am Ende des Films noch einmal zu zeigen, weil man dieser Tragödie ein Bild geben muss. Das war zwar ein sehr harter Part der Nachforschungen, aber es änderte meine Art, wie ich den Film drehen wollte.

Dies ist ihr erster Langfilm als ein Soloregisseur. Haben Sie sich dieses Thema extra für Ihren ersten Film aufgehoben oder kam das zufällig?
Ich habe mir dieses Thema nicht genau dafür aufgehoben, nein. Es war sogar eher schlecht, solch ein Thema zu wählen, da der Film auch irgendwie finanziert werden musste. Für Corbo musste man wegen des historischen Bezugs noch mehr Geld bezahlen und als unerfahrener Regisseur ist es schwierig jemanden zu finden, der den Film dann finanziert.
Also habe ich mir das Thema nicht dafür ausgesucht. Es ist vielmehr so, dass ich ständig auf der Suche nach Themen bin und nach einiger Zeit ist es einfach klar, was für ein Thema einen gerade interessiert und worüber man unbedingt berichten möchte. Corbo ist zwar historisch, hat aber dennoch so viele Bezüge zur Gegenwart, dass ich das Gefühl hatte, dass ich diese Geschichte unbedingt erzählen müsste.

13.02.2015, Sarah Gosten

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